Mindless

Auf einmal war alles anders. Ich bin wohl wegen eines Geräusches aufgewacht. Da es dunkel war, vermutete ich, es sei mitten in der Nacht. Ich stand auf, sah mich im Raum um. Versuchte zu hören, was mich geweckt hatte. Dabei fiel mir auf, daß ich erstaunlich wach war. Wie spät war es denn nun eigentlich?

Als ich das Licht einschalten wollte, um besser nach meiner Armbanduhr suchen zu können, erschreckte ich mich das erste Mal. Ich legte den Schalter um - und es passierte... gar nichts. Und wieder... und wieder... gar nichts. Offensichtlich gab es einen Stromausfall. Dann würde ich eben im Dunkeln suchen. Scheinbar hatten wir Vollmond, jedenfalls war es relativ hell für mitten in der Nacht.

Bis ich die Uhr fand. Und nachsah. Das war der zweite Schreck. Meine Armbanduhr zeigte genau 13:18 und 25 Sekunden an. 26. 27. 28. 29. 30. Nochmal - das kann doch nicht sein! 13:18 und 35 Sekunden. Hatte ich etwa die Rolläden runtergelassen? Aber woher kam dann das Mondlicht? Ein Blick aus dem Dachfenster ließ mich erschaudern: keine Rolläden. Keine Sterne. Kein Mond. Ich trat näher, um mich genauer umzusehen. Keine Stadt.

Ich wohne in einem zwanzig-stöckigen Wohnhaus, unter dem Dach. In einer Stadt mit 4 Millionen Einwohnern. In der Nähe des Zentrums. Um mich herum Hochhäuser. Aber jetzt nicht mehr. Statt auf Häuserfassaden blickte ich auf einen Wald. Tief unter mir.

Keine Rolläden, keine Sterne, kein Mond, keine Stadt. Weit und breit nur Bäume. Und die Quelle dieses Lichts war auch nicht auszumachen. Es war einfach irgendwie mondhell. Diese Beleuchtung faszinierte mich eine Weile. Lenkte mich eine Weile ab. Es war ein Licht, welches keine Schatten warf. Das fiel mir erst jetzt auf. Der Raum war davon erfüllt, obwohl es ja eigentlich von aussen hätte kommen müssen. Da ich ja keinen Strom hatte. Es war kühles, weißes Licht. Überall. Aber nicht wirklich hell. Es war Nacht, oder es sah zumindest aus wie Nacht - aber die Uhrzeit sagte, es sei Tag.

Was war nur los? Träumte ich etwa?

Vielleicht könnte mir jemand sagen, was los war. Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer eines Freundes. Kein tuten. Moment... auflegen. Abheben. Hören. Stille. Das Telefon war tot. Handy? Kein Empfang. War das etwa ein globaler Stromausfall? Hatte ich vielleicht Sylvester 2000 verschlafen? Der Wald. Mir wurde kalt.

Vielleicht wüssten die Nachbarn etwas... ich verließ die Wohnung. Auch im Treppenhaus war dieses ungewöhnliche Leuchten. An jeder Türe gab es ein Namensschild. Ich selbst hatte keines - mir gefiel die Anonymität. Aber alle Mitbewohner auf meinem Stockwerk hatten Namensschilder. Das wusste ich ganz genau. Wo waren die geblieben? Mit der umgebenden Stadt verschwunden? War ich eigentlich noch bei vollem Verstand? Eine Stadt verschwindet nicht einfach. Tagsüber scheint die Sonne.

Raus hier...

Den Lift ließ ich lieber Lift sein - ohne Strom würde der sowieso nicht funktionieren... also 20 Stockwerke zu Fuß. Zum Hauseingang. Ich wollte sehen, ob die Klingeln noch da wären. Vielleicht würde ich ja einen Leidesgenossen finden.

99 leere Klingelschilder. Bei einem stand ein Name. "Mindless". Wieso "Mindless"? Das war ein Wohnhaus - Firmen waren hier nicht erlaubt. Und überhaupt, wer würde einer Firma so einen schwachsinnigen Namen geben? Ist doch echt nicht werbewirksam, oder? WAS??? Erst beim zweiten Nachdenken fiel mir auf, wessen Klingel das war. Offensichtlich die einzige Person in diesem Haus, die nicht verschwunden ist: ich.

In einem Anfall von Panik rannte ich die 20 Stockwerke nach oben. Knallte die Türe hinter mir zu. Sprang auf mein Bett. Dachte, ich müsste jetzt völlig überanstrengt sein und einen Herzinfarkt bekommen. Versuchte vom Denken wegzukommen, und zu fühlen. Und spürte, daß mein Herz gar nicht schlug. Bum bum. Bum bum. Gedanken. Stille. Fühlen. Einatmen. Ausatmen. Gedanken. Stille. Gefühl.

Mein Verstand fühlte sich immer noch klar an. Ich hatte nicht das Gefühl, verrückt zu sein. Eigentlich kam ich mir sogar relativ gelassen vor. In Anbetracht der äußeren Umstände. Als ich jedoch meinen Puls fühlen wollte, wurde ich schlagartig ohnmächtig.

Mein Bewusstsein kam zurück. Ich hatte die Augen geschlossen. War wohl doch nur ein Traum. Ich öffnete die Augen. Und wurde wieder ohnmächtig.

Mein Bewusstsein kam zurück. Ich hielt die Augen geschlossen. Das war kein Traum. Die Augen blieben fest zugekniffen. Was war es dann? Die ganze Zeit über dachte ich nie daran, wie ich eigentlich in diese komische Lage kam. Alles war verändert - bis auf die Einrichtung meines Zimmers. Aber in der ganzen Zeit hatte ich nicht darüber nachgedacht - einfach nicht daran gedacht - wie es eigentlich vorher war. Ich versuchte mich zu erinnern.

Gestern Abend hatte mich eine Freundin besucht. Wie nahmen irgendwelche Tabletten, die sie mitgebracht hatte. Als die Wirkung einsetzte, dachte ich: fühlt sich an wie Valium. Ich wurde müde und schlief ein. Dann wachte ich auf. Sie war weg. Der Strom war weg. Die Sonne war weg. Die Sterne, der Mond und meine Stadt waren weg. Ebenso meine Nachbarn. Ebenso meine Haut.

Wieder öffnete ich meine Augen. Ich saß auf einem Sessel. Gegenüber von einem Spiegel. Ich war nackt. Keine Kleidung. Keine Haut. Nur Muskeln. Eingeweide. Der totale Schrecken - ich fühlte, wie sich mein Bewusstsein verabschieden wollte - alles wurde immer dumpfer und verschwommener. Dann, ein Lichtblitz, der so hell und klar war, daß es einige Minuten dauerte, bis sich meine Augen wieder an das Dämmerlicht gewöhnten. In diesen Minuten war es still. Ich atmete nicht. Mein Herz schlug nicht. In meinem Gehirn rosa Rauschen. Ich konnte keinen Gedanken fassen. Nur ein Pochen in meinem Kopf. Aus dem Rauschen nahm ich einen Satz wahr, der sich immer wieder und wieder wiederholte. Erst kaum wahrnehmbar, dann immer lauter.

Erst ein Flüstern im Rauschen. Immer lauter. Am Ende schrie ich aus voller Brust "Das ist alles nicht wahr!!!"

Hatte ich das gesagt oder nur gedacht??? Wohl geschrien, denn ich hatte die Augen fest zusammengekniffen.

Ich öffnete sie.

Ich saß in einem Sessel.

Ich saß gegenüber von einem Spiegel.

Ich war erleichtert.

Ich war bekleidet.

Ich war ein Mensch mit Haut.

Wo war ich vorhin stehengeblieben?

Mein Herz schien nicht zu schlagen, daher wollte ich meinen Puls fühlen. Als ich an meinem Handgelenkt nach den Pulsadern suchte, waren dort keine Adern. Nur weiße Haut. Vielleicht sah ich sie nur wegen des fahlen Lichts nicht. Aber der Schreck ließ mich ohnmächtig werden.

Diesmal hatte ich mit allem gerechnet - dann waren die Adern halt bei diesem Licht nicht sichtbar. Kann ja passieren. Den Puls müsste ich trotzdem fühlen. Also berührte ich mit dem Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand, das Handgelenk der linken. Als ich mehr Druck ausübte, um den Puls zu fühlen, gab es keine Widerstand. Mein Haut gab nach, wie die Außenhaut eines Luftballons. Ich war leer.

Das Telefon klingelt. Ich wache auf. Das Licht ist an. Ich suche das Telefon und hebe ab.

"Hallo?"

"..."

"Ist da jemand?"

"Nein"

"Wie bitte?"

"Du bist meine Seele. Ich bin Dein Körper. Deine Haut ist verloren. Zeit ist die vierte Dimension. Du bist schon längst tot. Ich werde Dich finden - und Dich für immer in mir einsperren."

Klack... tuuuuuuuuuuuuuuuuuuu...

Endlich funktioniert das Telefon wieder. Ich möchte einen Freund anrufen. Als ich auflegen, wieder abheben, und dann die Nummer wählen will, merke ich, daß der Hörer in der Luft hängt. Er fällt zu Boden. Ich bin das Universum.

Das Universum ist nichts.

Wirken lassen...

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© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Monday September 18 2000
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