Individualität

Eigentlich weiß ich, wie wertvoll ich bin. Eigentlich weiß ich, daß ich alles habe, was ich brauche. Ich weiß, daß ich verletzt bin - und kann die Schmerzen dieser Verletzung fühlen. Ich habe Menschen, von denen ich erkannt werde, so wie ich tief im Innersten wirklich bin - und von diesen Menschen bekomme ich auch, was ich als verletztes Wesen zur Heilung meiner Wunden brauche: Liebe.

Manchmal vergesse ich das leider. Dann sieht die Welt ziemlich böse und gemein aus, und am liebsten würde ich einfach verschwinden. Und genau das tue ich dann auch, wenn ich nicht aufpasse oder aufmerksam gemacht werde. Wenn ich verschwinde, bleibt natürlich ein Nichts übrig. Eine wertlose Hülle. Minderwertig. Wenn ich so eine wertlose Hülle bin, brauche ich natürlich irgendetwas, womit ich die Leere ausfüllen kann.

Daraus könnte dann eine "feste Beziehung" entstehen. Auf diese Weise funktioniert das genau dann, wenn beide Partner sich selbst vergessen haben, und ihr Glück im anderen suchen. Es entsteht eine gegenseitige Abhängigkeit, keiner kann ohne den anderen leben. Aber wenn man genau hinguckt, erkennt man, daß in Wirklichkeit schon beide Seiten ohne den anderen leben müssen, weil sich der andere ja auch verzogen hat.

Zuerst ist das natürlich wundervoll: man hat endlich irgendwas gefunden, mit dem man diese gähnende Leere ausfüllen kann. Endlich geschafft. Endlich Ziel erreicht. Weil das aber nur funktioniert, wenn der andere das mit sich machen lässt - und das lässt er nur dann, wenn er sich selbst verzogen hat, und dann seine Leere mit der leeren Hülle des anderen ausgefüllt hat - weil es also nur so funktioniert, funktioniert es in Wirklichkeit gar nicht. Für eine Weile hilft die Illusion von Besitz und Sicherheit, aber irgendwann zeigt sich die Leere.

Und dann wird die Hölle, die man sich schon die ganze Zeit geschaffen hat sichtbar, es folgt der Zusammenbruch. Die große Enttäuschung oder Desillusionierung. Langsam wird sichtbar, daß da kein Leben mehr ist. Langeweile. So eine Beziehung bricht dann irgendwann auseinander, wenn der Schmerz so groß ist, daß man es nicht mehr aushält. So eine Beziehung hört auf, wie sie beginnt: als Flucht. Und wenn das nicht ausreicht, die Menschen aufzuwecken, spielen sie dieses Spiel weiter - bis in alle Ewigkeit.
 

So gesehen ziemlich praktisch, daß mir das mit dem "Loch stopfen" ums Verrecken nicht gelingen will - ist ja nicht so, daß ich das einfach so sein lassen könnte. Es gibt da bei mir nämlich auch die Tendenz, mich selbst zu vergessen und mich am liebsten ganz im anderen aufzulösen - meine Individualität aufzugeben. Hätte ich jemanden, der das gleiche Spiel spielt, würde das gar nicht auffallen. Ich würde ja bekommen, was ich will - und die Welt wäre eben scheinbar erstmal in Ordnung.

Wenn das mit dem "Loch stopfen" aber nicht klappt, weil sich niemand als Füllmaterial hergibt, lande ich gleich in meiner selbsterschaffenen Leere. Der Zusammenbruch passiert sofort. Und das ist gut so - denn ich habe Unterstützung, und so kann ich mir angucken, was los ist: der, der ich eigentlich bin verzieht sich - und zurück bleibt eine leere Hülle. Daraus entsteht Minderwertigkeit, die will man auch nicht fühlen, also entstehen daraus Beziehungen, deren Fundament Minderwertigkeit und genauer betrachtet Leere ist.

Anstatt mir also irgendeinen anderen Menschen in die so entstandene Leere zu holen, mache ich das eigentlich naheliegende: ich spüre erstmal die Leere. Und alleine dadurch, daß ich sie bewusst fühle, und akzeptiere - fülle ich diesen schönen Raum mit mir selbst aus. Dann spüre ich, daß ich in meiner Individualität vollständig und vollkommen bin. Unabhängig, souverän und frei. Weil ich diesen Weg wirklich aus tiefstem Herzen heraus gehe und nicht nur so tue.

Dadurch entsteht eine ganz andere Art, einem anderen Menschen zu begegnen: ich erkenne mich selbst in meiner Vollkommenheit, und so kann ich auch Dich in Deiner Vollkommenheit erkennen. Ich muß Dich nicht zu etwas machen, was Du nicht bist, damit Du in meine Leere passt. Als freie, vollkommene Individuen treffen wir aufeinander und treten in Kontakt. Daraus entsteht etwas Neues - was wir beide noch nicht kennen, weil wir beide uns selbst nicht wirklich kennen. Und selbst wenn wir mal gesehen haben, wer wir wirklich sind, so vergessen wir das doch immer wieder - und müssen uns immer wieder bewusst daran erinnern.

Welcome, to the real world.

Leider sind keineswegs alle Verletzungen gleich geheilt, bloß weil man dieses Prinzip erkannt und durchschaut hat. Ich will Dir näherkommen, aber das geht nur, indem ich mir selber näher komme - und das geht nur, indem ich mir auch die Seiten von mir angucke, die mir nicht so gefallen. Manchmal ist das sehr unangenehm, und dann besteht die Tendenz wegzurennen. Bei mir bedeutet "wegrennen" ironischerweise nicht selten - zumindest wenn mein Gegenüber eine attraktive Frau ist: sich dranklammern... also immer wieder wachsam sein.

Das könnte ein Kreis werden, weil sich das Prinzip ja letztlich immer wieder wiederholt. Aber es geht tiefer und tiefer, und die Umwege werden kürzer und kürzer. So wird aus dem Kreis eine Spirale - und im Zentrum... na das sehen wir ja dann.

Für mich bedeutet "in Beziehung treten" genau diesen Weg gemeinsam zu gehen. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Beziehung wie ich sie mir vorstelle hat als Fundament Wahrheit und Liebe. Weil wir in einer Welt aufgewachsen sind, in der Wahrheit und Liebe eigentlich nicht mehr zählen, ist dieser Weg manchmal hart und steinig. Es gibt aber auch Abschnitte die sind einfach nur schön, man kann geniessen und sich freuen.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Wednesday February 07 2001
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