Herz gebrochen

Alles dreht sich. Nicht um ihn, sondern in ihm. Nicht Schwindel, sondern scheinbare Verwirrung. Mal wieder eine Frau. Immer sind es Frauen, die ihn an diese Stelle führen. Aber in letzter Zeit war es nicht immer das gleiche. Früher war das so. Früher war das auch alles ziemlich unbewusst. Irgendwie hat's halt wegen irgendetwas nicht geklappt, so wie er es sich vorgestellt hätte.

Seit einigen Monaten war etwas anders. Es war nicht immer das gleiche. Es war immer das gleiche Prinzip - aber es ging immer tiefer und tiefer und tiefer. Und tiefer.

Scheinbar reicht es jetzt nicht mehr, irgendjemanden zu treffen. Mit irgendjemandem könnte er, wenn er wollte - und es gibt sehr wohl Teile in ihm, die wollen das - einfach sagen: na, das ist ja nur irgendjemand, why worry? Aber so geht das eben jetzt nicht, weil er jemanden getroffen hatte, bei dem alles ganz neu ist, und der ihm doch so vertraut scheint. Da tut was weh.

Erstmal hat diese Frau einen wunderschönen Körper. Wow, also wie schön kann es sein, jemanden in den Armen zu halten? Genau so schön. Das mag oberflächlich wirken, aber er hatte es noch nicht erlebt, daß die Anatomie von ihrem Körper - da tut was weh - in einer Umarmung so wundervoll zu der seines Körpers passte. Huihui.

Und dann kommt er mit ihr ganz leicht in Kontakt. Nicht unsicher den leeren Raum stopfen, sondern gemeinsam herausfinden, wer man ist, wie man sich gerade fühlt. Da sei kein Schmerz! Mit den Zusammenhängen spielen, und sich daran freuen. Hier und da gibt's eine Grenze, aber meistens wird die auch als Grenze erkannt, also was könnte er sich mehr wünschen.

Es tut weh. Aber das will er nicht wissen. Dabei ist genau dieser Schmerz etwas, was die beiden gerade auch verbindet. Beide kriegen nicht, was sie sich wünschen - er sie nicht, sie irgendeinen anderen Typen nicht. Schön inszeniert.

Was hatte dieser Typ sich sein ganzes Leben am allermeisten gewünscht? Genau: jemanden, der so ist wie er, aber eben Frau. Dieses Ziel hatte er längst aufgegeben, bringt ja doch nichts. Und jetzt trifft er in dieser Frau jemanden, bei dem es so aussieht, als wäre diese Gemeinsamkeit tatsächlich real. Könnte wundervoll harmonisch werden...

Also schon alles total beeindruckend, und verliebt ist er ja sowieso schon längst. Aber nein, auch das wäre scheinbar gerade zu banal - auch da wäre es scheinbar gerade zu einfach, sich einfach aus der Affäre zu ziehen, und zu sagen: nix bsonders. Würde er das tun? Oh ja... denn es tut saumäßig weh. Wenn er könnte würde er - Selbstbild vom spirituellen Forscher hin oder her - soweit wegrennen wie er nur irgendwie könnte. Bloß weg von dem, was sich da so dumpf als irgendwie, äh, unangenehm, das... weg weg weg.

Also setzt Gott - oder wie immer man den oder das nennen mag, was in diesem Spiel Regie führt, Drehbücher schreibt und überhaupt den großen Masterplan hat - noch einen drauf.

Die beiden erkennen in einem ewigen, wundervollen Augenkontakt, daß sie sich schon viel länger kennen. Ein Wiedertreffen nach so langer Zeit. Damals war sie seine große Schwester. Sehr intelligent, irgendwie verschmitzt - unheimlich attraktiv. Er war einfach, aber in seiner Einfachheit zufrieden. Abgesehen davon, daß er sich wohl unheimlich in seine Schwester verliebt hatte - und sowas konnte damals, wie wohl auch heute, eben nicht seine Erfüllung finden.

Und, er glaubt es kaum, er glaubt es kaum: obwohl sie, genauso wie er ein Bild von ihm hat, daß er der mit dem großen Durchblick ist - und sie, anders als er, dachte, sie sei eine totale Anfängerin, erkennt sie diese Sachen zuerst.

Vielleicht hatte sie ihm da einen Schlüssel gezeigt. Eine von ihm besonders geliebte - äh, gehasste Inszenierung - ist nämlich genau die, bei der er sich in irgendeine Frau total verliebt, die dann aber nur "Geschwisterliebe" möchte. Damn it, wie er das hasst. Da ist das, was er sich so sehr wünscht so nah. So nah, daß er es anfassen könnte, wenn er dürfte. Darf aber nicht. Wie fies. Wie schmerzhaft. Verdammt verdammt.

Und dann trifft er also die Seele, mit der das vielleicht alles angefangen hat. Nur, weil die beiden halt dummerweise gerade in der gleichen Familie waren. Oder vielleicht, weil er so blöd war, sich in seine Schwester zu verlieben. Oder warum auch immer. Auf jeden Fall tut es weh. Vielleicht genau deswegen. Äh, nee... egal was, nur das nicht.

Durch ihre Augen kann er in die Ewigkeit sehen. So nah war er an dem, was man als "Ideenwelt" bezeichnen könnte, schon lange nicht mehr. Der physische Raum um die beiden löst sich auf, sie schweben irgendwo im Licht, spüren wie eine Energie durch sie hindurch kreist. Sie erleben gemeinsam Friede und Ruhe. Amazing grace.

Nur er vermisst irgendwie den Körperkontakt...

Er will sie sofort heiraten, auf eine einsame Insel flüchten und die ganze beschissene Welt am liebsten vergessen. Am allerliebsten hätte er es eigentlich gerade, wenn er sie einfach besitzen könnte. So daß er nie nie nie nie nie an diesen gottverdammten Schmerz drankommen müsste, der sich da schon die ganze Zeit abzeichnet... mal etwas dumpfer, mal etwas schneidender. Es tut so verdammt weh!!!

Ein Anfall von Eifersucht. Die Vorstellung, wie sie mit irgendjemand anderem das erleben könnte, was er sich so sehr wünscht. Was Eifersucht??? Nö, das passt nun aber gar nicht zu seinem Selbstbild. Zu Recht - denn er guckt natürlich dahinter, und stürzt wieder zurück in einen Abgrund aus Schmerz und Verzweiflung. Danke dafür... immerhin rennt er also nicht andere Männer und am besten noch gleich die Frauen dazu mordend durch die Gegend. Nochmal Glück gehabt ihr Projektionsflächen meines Leids... hehe... da kann er aus tiefster Seele lachen und sich freuen. Dämliche Ego-Dramen.

Öm... das findet er jetzt blöd. Wollte er doch eigentlich noch schreiben, daß er sich erst schrecklich verletzlich fühlte. So, als würde die kleinste Bewegung in die falsche Richtung von ihr dazu führen, daß er sofort an gebrochenem Herzen stirbt. Würde er auch nur den kleinsten Fehler machen, sich in seiner Minderwertigkeit und mit seinen Schwächen zeigen, würde sie ihn zwangsläufig fallenlassen und er müsste sofort sterben, weil er das nicht aushält.

Auf den ersten Blick sah das tatsächlich so aus. Bei genauerem Hinsehen durfte er aber mal wieder erkennen, daß er keineswegs erst verletzlich war - sondern diese Verletzung in ihrer ganzen Schmerzhaftigkeit schon längst passiert war. Das, wovor er am allermeisten Angst hat, war schon längst eingetreten - nur versteckt er das normalerweise vor sich selbst. Ein Gefühl, als hätte ihm ein böses Monster die Brust aufgerissen, und literweise Wespengift reingespritzt. Ich darf daran erinnern, daß Wespengift die schmerzhafteste Kombination irgendwelcher Chemikalien ist, die dem Menschen bekannt ist.

Aber wo er diesen Schmerz so tief gefühlt, so bitterlich geweint und schließlich so klar erkannt hatte, was seinem Ego so einfällt, um eben genau an diese Stelle nicht zu kommen, fühlt er sich auf einmal einfach nur friedvoll und frei. Er spürt, wie sein ganzer Körper von Liebe durchflutet wird. Aus der Enge und dem besitzen wollen entsteht Raum und Freiheit. Von hier aus kann er nur darüber lachen, wie er sich immer wieder um die Gefühle drückt, die die ganze Zeit schon da sind. Das ist kein böses Lachen, sondern ein Lachen aus tiefstem Mitgefühl mit sich selbst. Oder vielleicht mit dem Ego, in dem er gerade drinnensteckt... wie auch immer, es macht Spaß und er kann es geniessen.

Freiheit, Freude, Wahrheit und Liebe. Eigentlich hat er ja, was er braucht.

Er weiß inzwischen auch, daß er sich daraus nicht ein Selbstbild basteln kann, mit dem er vor seinen Schmerzen flüchten könnte - obwohl er das natürlich andauernd versucht. Aber er kann ehrlich hingucken. Dann landet er gleich in Minderwertigkeit, Schmerz und Verzweiflung, geht durch, kommt auf die andere Seite und ist frei. Hehe, blöd ist sein Ego ja nicht: wenn er die Frauen nämlich nicht mehr als Unterstützung zum Schmerz fühlen braucht, darf er mit einer von ihnen vielleicht endlich mal das erleben, wozu er sich überhaupt diesen ganzen Mist mit physischer Inkarnation und so antut: aus der Einheit in die Trennung und Isolation, um sich in der Trennung mit einem anderen Getrennten wiederzuvereinigen und gemeinsam zurück in die göttliche, allumfassende Einheit zu kommen.

Immerhin wird ihm eines immer deutlicher klar: auch das geht vorüber.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Wednesday February 07 2001
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