Ground zero

Aufgewacht bin ich, weil um 7 Uhr morgens irgendjemand in dem Haus, in dem ich wohne schrecklichen Lärm gemacht hat. Ein kleiner Akt des Terrors, ich habe mich vergewaltigt gefühlt, und auch geärgert.

Sehr bald nach dem Aufwachen, nachdem der Lärm vorbei war und nicht mehr meine Aufmerksamkeit auf sich zog, dachte ich - natürlich - an Sonia. Und dann konnte ich beobachten, wie ich wieder mich selbst immer kleiner mache, und sie immer größer. Bis von mir gar nichts mehr übrig ist, und sie zu so einer Art "Übermutter" wird.

Und wie ich das so beobachte, und mir ihre Eltern herhole, und meine, und sehe, wie bei beiden eine Sache scheinbar ganz ähnlich lief... und wenn ich mir meine Oma herhole, welche meine Mutter plattgemacht hat, dann ist das noch viel deutlicher zu sehen, als bei meiner Mutter, die selbst unter meiner Oma total extrem gelitten hat und immer noch leidet - aber dafür meinen Vater platt gemacht hat...

... wie ich mir meinen Vater herhole, und spüre, daß dieses "klein werden" - das ich ihm gerade nachgemacht habe - ihn am Ende umgebracht hat, weil er gar kein Mann mehr war sondern nur noch ein Schwächling, ein Verlierer - und das sicher auch nicht in seiner ursprünglichen Form, sondern erst nachdem ihn seine Eltern und meine Mutter und die ganze restliche kranke Gesellschaft zu dem gemacht haben. Und mit seinem Leid und mit seiner Schwäche und seiner Angst hat er sich dann auch gerächt - spätestens als er uns verlassen hat...

... wie ich so über Beziehungen sinniere, und dabei mehr und mehr den Eindruck bekomme, daß Beziehungen wohl etwas total krasses, irgendwie gefährliches sind, wo ich mir immer eingebildet hatte, daß das doch "nur" wahre, tiefe und liebevolle Freundschaft plus Sinnlichkeit und Sex seien (also eigentlich super und genau das, was sich jeder wünscht)...

Da habe ich das Gefühl, an die Wurzel meines Schmerzes zu kommen. Ground Zero. Es fällt mir sehr schwer, an dieser Stelle zu bleiben, und davon zu berichten. Ich habe eine sehr, sehr starke Tendenz dabei in den Kopf zu gehen - aber ich muß das jetzt aufschreiben, weil ich es sonst definitiv wieder vergessen werde, weil es starke Teile in mir gibt, die das gar nicht wissen wollen.

An dieser Stelle fühle ich, wie kaputt ich eigentlich bin. Ich weiß, wer ich wirklich bin - und sehe daneben dieses Häufchen Elend, was im Moment von mir übrig ist. Sehr gut hinter meinen Selbstbildern und meinen scheinbar so selbstsicheren und selbstbewussten und starkem Auftreten versteckt, das Opfer der Zerstörung - das Opfer des Hasses.

Es war sehr wichtig für mich bei einem engen Freund und in der Gruppe zu sehen - und vor allem zu spüren - was eigentlich Haß wirklich ist. Wie gut er versteckt sein kann, z.B. wenn sich jemand als leidendes Opfer zeigt - und wie vernichtend und mörderisch er dennoch wirkt. Dieser Haß hat mich spielend in Todesangst versetzt - Herzrasen und Panik.

Es war auch wichtig zu erkennen, daß dieser Haß nicht etwas ist, was ein Mensch selber erfindet. Eigentlich ist Haß die Erbsünde - es ist das, was wir abbekommen, von denen, die es selbst abbekommen haben - und wenn wir es nicht aufdecken, es uns zutiefst bewusst machen - uns bewusst machen wie verdammt verdammt verdammt weh es tut, das abzubekommen... wie es einen Menschen kaputt macht, das abzubekommen - wie es uns kaputt gemacht hat und dauernd weiter zerstört. Die Verantwortung übernehmen dafür, daß wir das weitergeben.

Wenn wir uns das also nicht bewusst machen und die Verantwortung übernehmen, das ganze Ausmaß der Verletzung - oder eigentlich: Vernichtung. Bewusst machen, und dennoch verzeihen können. Auf die andere Seite kommen und diejenigen, die das unbewusst an uns weitergegeben haben wieder aus der Wahrheit heraus lieben - nicht aus einer aufgesetzten Illusion, sondern aus dem tiefen Erkennen, was da passiert ist, wie alles zusammenhängt, wer sie wirklich waren.

Wenn wir das nicht tun werden wir schuldig. Weil wir diese Zerstörung von Leben und Einheit weitergeben, ob wir wollen oder nicht - ob wir es merken oder nicht. Wir werden dann zu dem, was uns selbst so zugerichtet hat. Wir nehmen das Gift auf, und geben es vielfach weiter. Wie ein fieser Virus breitet sich der Hass aus - und AIDS wäre im Vergleich dazu harmlos und nett.

Bei mir sieht das dann so aus, daß hinter all den schönen, starken Fassaden eben nur noch ein Häufchen Elend dahinvegetiert. So ist es für mich unmöglich, meine eigentliche Aufgabe umzusetzen - weil ich immer Angst vor Zurückweisung habe, eine grundsätzliche Existenzangst, und mich deshalb nicht traue - unfähig bin - meine ganze Energie in die Umsetzung meiner Vision zu setzen. Ich bekomme immer wieder Ausschnitte von dem gezeigt, wie es sein sollte oder könnte oder vielleicht auch sein wird - aber weil ich so klein gemacht wurde, bekomme ich dann Angst vor mir selbst und kann mir gar nicht vorstellen, daß ich das machen soll. Und das tut so weh so verstümmelt zu sein.

Genauso wird es für mich unmöglich, in Beziehung zu einer Frau zu treten. Nicht nur, weil dabei natürlich voll das Drama meiner Eltern hochkommt: diese panische Angst davor, verlassen zu werden, und dann dieses sich klein machen und verschwinden. Sondern da krieg ich es dann auch noch mit den Eltern der Frau, und deren Eltern zu tun... und eigentlich überhaupt nicht mit den entsprechenden Menschen, sondern ganz am Ende, wenn man den ganzen Schein - einschließlich dieser Projektion namens "Gesellschaft" - weggenommen hat, mit irgendeiner total üblen, zerstörerischen Energie, die sich ausbreitet, wenn man ihr nicht mit Bewusstheit und wahrhaftiger Liebe entgegentritt. Sie bewusst an sich heran lässt und in Liebe umwandelt.

Und spätestens da hat dann mein eigener Haß eine gut Chance sich auszubreiten: weil ich dann nämlich schrecklich leide, und der andere hat keine Chance, dieses Leid zu stoppen, weil er selbst damit verwickelt ist. Egal, was er auch tun würde - ich würde immer weiterleiden... vielleicht würde ich darüber noch mein tolles Selbstbild setzen: ich bin der, der den Weg geht, ich habe den Durchblick. Und damit könnte ich den anderen dann komplett fertig machen, weil ich doch eigentlich viel weiter bin, und dann aber doch so leide... das ist ja total schrecklich.

Eine andere Variante, die ich drauf habe: wenn sich meine Partnerin eher abhängig und schwach zeigt, dann schaffe ich es plötzlich noch andere Frauen anzuzuziehen und auszuziehen (oder habe entsprechend vorgesorgt), oder halt nur ein bißchen von mir zu geben, so daß ihr immer ein Teil fehlt. Das bringt sie natürlich genau in die Lage, in der ich mich gerade wähne - und das ist außerordenlich schmerzhaft. Und dann leidet sie so wie sonst ich, und darunter leide ich selbst auch, weil ich genau weiß, wie das ist - also räche ich mich gleichzeitig an uns beiden.

Deshalb habe ich eigentlich auch einen ziemlich üblen Nachgeschmack im Bezug auf alle Beziehungen, die ich bisher hatte. Es sieht so aus, als würde da immer noch mehr Schaden angerichtet werden, als sowieso schon passiert ist - bei mir und den anderen. Vielleicht ist es doch nicht so, wie ich dachte, daß man verletzt ist, und diese Verletzung nur wieder aus der Tiefe an die Oberfläche gebracht wird. Mitnichten: man ist eigentlich eh schon erledigt, und bekommt dann noch eins drauf, und noch eins drauf, und noch eins drauf... so lange, bis man diesen ganzen Scheiß durchschaut und Schritt für Schritt aus jedem einzelnen solchen Spiel aussteigt - sich befreit und befreien lässt.

Falls sich irgendjemand einbildet, in diesem Spiel die Überhand zu haben - zu gewinnen: solche Idioten sind einfach nur zu unsensibel und spüren nicht, was sie sich selbst und ihren Mitmenschen antun. Von so jemandem würde ich mich fern halten, der wird schon irgendwann vom Leben weichgeklopft.

Was mir jetzt eigentlich erst beim Aufschreiben bewusst geworden ist - und was mich am allermeisten schockiert: es gibt keine Liebe, wenn man nicht ganz bis auf die andere Seite durchgestoßen ist. Alles, was nett und liebevoll aussieht, aber nicht zutiefst aus der Seele kommt - von jemandem, der nicht auf der anderen Seite steht - ist allenfalls Tarnung, verfestigt diesen Zustand und ist somit - im wahrsten Sinne des Wortes - Teufelswerk. Natürlich macht aufgesetzte "Liebe" und Nettigkeit die Situation erträglicher, aber weil darunter der Haß brodelt wird es in Wirklichkeit schlimmer.

Das muß man erstmal erkennen können ohne bewusstlos zu werden... dahin kommt man, indem man jemanden findet, der schon auf der anderen Seite ist und einem den Weg weist - und indem man sich den Weg weisen lässt [und da muß ich doch ein paar explizite special greetings an "Sonia" loswerden, die da sehr deutlich einen Teil von mir gespiegelt hat, es aber scheinbar nicht sehen wollte... schade schade...].

Es gibt keine Liebe in der Illusion - Liebe gibt es nur aus der Wahrheit heraus. Und diese Liebe - aus der Wahrheit, aus dem schonungslosen Erkennen der Wirklichkeit - kann eine Seele dann wirklich retten. Diese Liebe bedeutet Verzeihen und Heilung. Diese Liebe bedeutet den Haß zu verzeihen, selbst wenn man den Menschen nicht dazu bewegen kann, ihn sein zu lassen. Wenn aber jemand wirklich möchte, kann er Schritt für Schritt tiefer kommen, tiefer verzeihen - tiefer lieben... tiefer so werden, wie er eigentlich ist.

Ich weiß nicht, ob man sich in dieser Liebe immer wieder und wieder und wieder umbringen lassen muß - aber es lohnt sich auf jeden Fall, das auszuhalten ohne dabei die Bewusstheit zu verlieren. Weil man - wenn man dabei unbewusst wird - definitiv in absehbarer Zeit jemand anderen umbringt oder zumindest brutal verletzt, so wie man selbst ermordet oder brutal verstümmelt wurde. Normalerweise subtil und energetisch, so daß es kaum zu sehen ist. Kaum einer merkt das wirklich! Oder aber, wenn die Konditionierung der Gesellschaft nicht stark genug ist - ganz konkret.

Jetzt fühle ich mich bedeutend besser. Ich spüre Freude, Friede und Klarheit. Irgendwas habe ich wohl richtig gemacht.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Wednesday February 07 2001
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